Es gibt einen guten Grund, warum fast alle bekannten Autor*innen aus der Welt der Produktentwicklung keine Prozessmodelle bevorzugen. Die Poppendiecks, Cagens, Perris, Torres und Blanks dieser Welt geben uns vor allem Prinzipien an die Hand. Keine fest definierten Prozessmodelle. Der Grund liegt darin, dass Prozesse immer wieder zu dogmatisch eingesetzt werden. Dies passiert insbesondere dort, wo mehr Prozess- als Fachexpertise vorherrscht. Es besteht die Gefahr, dass Teams den Blick für das Wesentliche verlieren. Im schlimmsten Fall herrscht die Meinung vor, dass ein guter Prozess allein zu guten Ergebnissen führen muss. Damit ersetzt der Prozess das Nachdenken darüber, was eigentlich wirklich zum Erfolg notwendig ist.
Warum Prinzipien zur Steuerung geeigneter sind als Prozesse
- Prinzipien arbeiten mit Leitlinien, an die wir glauben und für die wir uns verantwortlich fühlen. Prinzipien können uns einen Sinn für Zweck und Richtung unserer Handlungen geben und sind daher motivierender. Prozesse werden eher als langweilige Pflicht angesehen.
- Prinzipien sind flexibler als Prozesse und können leichter an verschiedene Situationen angepasst werden und besser auf Veränderungen reagieren. Sie ersetzten das Nachdenken nicht. Wenn also überhaupt, ist es eher ratsam, Prinzipien erfolgreicher Firmen zu kopieren als deren Prozesse.
- Prinzipien führen zu besseren Ergebnissen, da sie auf unseren Werten und Überzeugungen beruhen. Wenn wir Entscheidungen auf der Grundlage von Prinzipien treffen, ist es wahrscheinlicher, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen. Für Prozesse gilt das nicht.
Beispiele, wie Prinzipien anstatt Prozesse in der Produktentwicklung angewendet werden können
- Wenn die Lösung von echten Problemen im Fokus stehen und nicht Rollen, Prozesse und Leistungen. Alle im Team sollten sich dafür verantwortlich fühlen, diese Probleme gemeinsam zu identifizieren und zu lösen. Nur echte Ergebnisse werden als Erfolg definiert, nicht die geleistete Arbeit.
- Wenn Verantwortungen klar und sinnvoll aufgeteilt und nicht in bestimmte Rollen gepresst wird.
- Wenn Ineffizienzen erkannt und gemeinsam gelöst werden, unabhängig von bestimmten Prozessen (z.B. durch das Erreichen kontinuierlicher Releases oder schneller Entscheidungszyklen)
- Wenn Evidenz- und nicht Annahmen-basiert gearbeitet wird und Ziele und Kunden im Fokus stehen. So werden dafür notwendige Daten und Informationen gesammelt und bilden die Grundlage von Entscheidungen.
- Wenn wichtige Produktentscheidungen durch eine klare Vision, Strategie und davon abgeleiteten Produktprinzipien unterstützt werden. Sie helfen dabei zu definieren, was das gemeinsame Verständnis dafür ist, wie die Vision erreicht werden kann.
Natürlich sind Prozesse deshalb nicht irrelevant. Sie können uns helfen, effizienter und effektiver zu arbeiten, insbesondere dann, wenn viele Teams gemeinsam auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Jedoch sollten Prozesse niemals zum Dogma und damit wichtiger werden als Prinzipien. Wer nicht mehr plausibel erklären kann, warum ein bestimmter Prozess existiert, befindet sich vermutlich bereits auf diesem Weg.